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Neueste Informationen Heft 2/2023

 

Axel Flessner (1935-2022)

Am 26.11.2022 verstarb Prof. Dr. Axel Flessner kurz nach dem Tod seiner Frau Susanne Flessner. Er hatte sich im Jahr 1979 an der Universität Hamburg habilitiert und erhielt die venia legendi für Bürgerliches Recht, Rechtsvergleichung, Internationales Privatrecht, Zivilverfahrensrecht. Axel Flessner war Professor an der Humboldt Universität zu Berlin und hat durch seine Beiträge unter anderem die Methodendiskussion des internationalen Privatrechts mitgestaltet. Er gehörte dem Deutschen Rat für Internationales Privatrecht seit dem Jahr 1989 an.

 

Choice of Law in the American Courts in 2022: Thirty-Sixth Annual Survey
Der 36. Annual Survey of Choice of Law in the American Courts (2022) wurde auf SSRN gepostet: https://papers.ssrn.com/sol3/papers.cfm?abstract_id=4353041.
Der Bericht wurde nun zum zweiten Mal nicht mehr von Symeon Symeonides, sondern jetzt von  John F. Coyle, University of North Carolina, William S. Dodge, UCL Davis, und Aaron D. Simowitz, Willamette University/ NYU, für die Association of American Law Schools Section on Conflict of Laws verfasst. Er gibt eine Übersicht über die relevanten kollisionsrechtlichen Entscheidungen, die im Jahr 2022 von US-Gerichten erlassen wurden. Sie betreffen das IPR, Extraterritorialität, internationale Menschenrechte, Immunität, Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung ausländischer Urteile (Red).

 

Auflösung der United Nations Compensation Commission

31 Jahre nach ihrer Errichtung durch den UN Sicherheitsrat (gemäß Kap. VII der UN-Charta) erfolgt zum 31.12.2022 die formelle Auflösung der Kompensationskommission der Vereinten Nationen (UNCC) für die Vermögensfolgen der Besetzung von Kuwait (1991). Die Kommission entschied über ca. 2.700.000 Anträge von Individuen, Unternehmen, Staaten und Internationalen Organisationen betreffend die Kompensation von Schäden, die aus der irakischen Invasion und Besetzung von Kuwait 1990/1991 resultierten. In ca. 1.500.000 Fällen entschied die Kommission zugunsten der Antragsteller und sprach Entschädigungen in Höhe von 352.500.000.000 USD zu (BH).

 

Art. 1 Abs. 1 EuGVVO: Keine Zivil- und Handelssache bei behördlichen Sonderrechten im Wettbewerbsrecht

EuGH 22.12.2022 – C-98/22 – Eurelec Trading SCRL, Scabel SA ./. Ministre de l’Économie et des Finances

Art. 1 Abs. 1 EuGVVO ist dahin auszulegen, dass der Begriff „Zivil- und Handelssachen“ im Sinne dieser Bestimmung die Klage einer Behörde eines Mitgliedstaats gegen Unternehmen mit Sitz in einem anderen Mitgliedstaat, mit der die Feststellung, Ahndung und Unterlassung wettbewerbsbeschränkender Verhaltensweisen gegenüber im ersten Mitgliedstaat ansässigen Lieferanten bezweckt wird, nicht umfasst, wenn diese Behörde Klage- oder Ermittlungsbefugnisse ausübt, die von den im Verhältnis zwischen Privatpersonen geltenden allgemeinen Regeln abweichen.

 

Art. 13 EuErbVO: Doppelanträge von Miterben in unterschiedlichen Mitgliedstaaten

Schlussanträge des Generalanwalts Maciej Szpunar beim EuGH 10.11.2022 – C-651/21 – M. Ya. M.

1. Art. 13 EuErbVO ist dahin auslegen, dass er nicht dem entgegensteht, dass, wenn einer der Erben bei einem Gericht des Mitgliedstaats, in dem er seinen gewöhnlichen Aufenthalt hat, eine Erklärung über die Annahme oder Ausschlagung der Erbschaft eines Erblassers, der zum Zeitpunkt seines Todes seinen gewöhnlichen Aufenthalt in einem anderen Mitgliedstaat hatte, hat eintragen lassen, ein anderer Erbe danach die Eintragung dieser Erklärung in diesem letztgenannten Mitgliedstaat beantragen kann.

2. Art. 13 EuErbVO ist dahin auszulegen, dass er nicht dem entgegensteht, dass ein anderer Miterbe als jener, der die Erklärung über die Ausschlagung der Erbschaft im Mitgliedstaat seines gewöhnlichen Aufenthalts abgegeben hat, das mit der Erbsache befasste Gericht vom Vorliegen dieser Erklärung in Kenntnis setzen kann.

 

EuVTVO: Einstweiliger Rechtsschutz und Verfahrenskoordination

Schlussanträge des Generalanwalts Priit Pikamäe beim EuGH 20.10.2022 – C-393/21 – Lufthansa Technik AERO Alzey GmbH

1. Art. 23 EuVTVO ist dahin auszulegen, dass der in dieser Bestimmung verwendete Ausdruck „außergewöhnliche Umstände“ einen schweren und nicht wiedergutzumachenden Schaden umfasst, der dem Schuldner durch die sofortige Vollstreckung einer als Europäischer Vollstreckungstitel bestätigten Entscheidung entstehen kann und eine vom Schuldner nachzuweisende dringliche Situation kennzeichnet. Ist das der Fall, ist es Sache des zuständigen Gerichts oder der befugten Stelle des Vollstreckungsmitgliedstaats, unter Berücksichtigung aller maßgeblichen Umstände des Einzelfalls eine Interessenabwägung vorzunehmen. Nur die in Art. 23 lit. a und b EuVTVO vorgesehenen Maßnahmen zur Beschränkung des Vollstreckungsverfahrens können kombiniert angewandt werden.

2. Die Art. 6 und 11 EuVTVO sind dahin auszulegen, dass, wenn die Vollstreckbarkeit der als Europäischer Vollstreckungstitel bestätigten Entscheidung im Ursprungsmitgliedstaat ausgesetzt und die in Art. 6 Abs. 2 EuVTVO vorgesehene Bestätigung dem zuständigen Gericht oder der befugten Stelle im Vollstreckungsmitgliedstaat übermittelt wurde, diese im Rahmen der Durchführung der anwendbaren nationalen Rechtsvorschriften gehalten sind, durch die Aussetzung des Vollstreckungsverfahrens die volle Wirksamkeit von Art. 11 EuVTVO zu gewährleisten.

 

Art. 8 Nr. 1 EuGVVO: 

Vorabentscheidungsersuchen des OLG Düsseldorf 27.12.2022 – C-832/21

Ist eine „so enge Beziehung“ zwischen den Klagen, dass eine gemeinsame Verhandlung und Entscheidung geboten erscheint, um einander widersprechende Entscheidungen zu verhindern, im Sinne von Art. 8 Nr. 1 EuGVVO gegeben, wenn bei der Verletzungsklage wegen Verletzung einer Unionsmarke der Zusammenhang darin besteht, dass die in einem Mitgliedsstaat (hier: Polen) ansässigen Beklagten die eine Unionsmarke verletzenden Waren an eine in einem anderen Mitgliedsstaat (hier: Deutschland) ansässige Beklagte, deren ebenfalls als Verletzer verklagter gesetzlicher Vertreter der Ankerbeklagte ist, geliefert hat, wenn die Parteien nur über die reine Lieferbeziehung miteinander verbunden sind und weder rechtlich noch tatsächlich ein darüber hinausgehender Zusammenhang besteht?

 

Art. 1 Abs. 2, 13 bis 15 EuMahnVO: Sperrwirkung durch nationales Verfahrensrecht und entgegenstehende Rechtskraft?

Vorabentscheidungsersuchen des Tallinna Ringkonnakohus (Estland) 14.10.22 – C-647/22

1. Ist Art. 1 Abs. 2 EuMahnVO dahin auszulegen, dass eine Vorschrift des nationalen Rechts wie § 371 Abs. 1 Nr. 4 der estnischen Zivilprozessordnung (wonach ein Gericht eine Klage u. a. dann nicht zulässt, wenn ein verfahrensbeendender Beschluss eines estnischen Gerichts rechtskräftig geworden ist, der in einem Rechtsstreit zwischen denselben Parteien über denselben Gegenstand und auf derselben Grundlage ergangen ist und eine erneute gerichtliche Klage in derselben Sache ausschließt) der Verhandlung einer Klage über eine Forderung entgegensteht, für die ein Europäischer Zahlungsbefehl von einem Gericht eines Mitgliedstaats erlassen und für vollstreckbar erklärt wurde?

2. Falls die erste Frage in der Regel dahin zu beantworten ist, dass das Vorliegen eines Hindernisses bejaht wird, ändert sich die Antwort, wenn sich nach der Vollstreckbarerklärung des Europäischen Zahlungsbefehls herausstellt, dass die Zustellung des Zahlungsbefehls nicht im Einklang mit den in Art. 13 bis 15 EuMahnVO festgelegten Mindestvorschriften erfolgt ist?

3. Falls die zweite Frage dahin zu beantworten ist, dass das Vorliegen eines Hindernisses bejaht wird: Kann das Gericht, das den Europäischen Zahlungsbefehl erlassen und für vollstreckbar erklärt hat, von Amts wegen oder auf Antrag des Antragstellers entscheiden, dass die Vollstreckbarerklärung des Zahlungsbefehls ungültig ist, wenn sich nach der Vollstreckbarerklärung des Zahlungsbefehls herausstellt, dass die Zustellung des Zahlungsbefehls nicht im Einklang mit den in Art. 13 bis 15 EuMahnVO festgelegten Mindestvorschriften erfolgt ist?

4. Falls die dritte Frage zu bejahen ist: Kann das Gericht, das den Europäischen Zahlungsbefehl erlassen und für vollstreckbar erklärt hat, unabhängig von der Durchführung, der Beendigung oder dem Ergebnis des Verfahrens über die Zwangsvollstreckung vor dem Gericht des Vollstreckungsmitgliedstaats über die Ungültigkeit der Vollstreckbarerklärung des Zahlungsbefehls entscheiden?

 

EuEheVO 2003, EuEheVO n.F., Art. 47 GrCharta: Vollstreckungsaussetzung des Beschlusses über die Kindesrückgabe infolge Beschlusses des polnischen Generalstaatsanwalts, Ombudsmanns für Kinder oder Ombudsmanns für Bürgerrechte

Vorabentscheidungsersuchen des Sąd Apelacyjny w Warszawie (Polen) 12.10.2022 – C-638/22

Stehen Art. 11 Abs. 3 EuEheVO 2003 sowie Art. 22, Art. 24, Art. 27 Abs. 6 und Art. 28 Abs. 1 und 2 EuEheVO n.F. in Verbindung mit Art. 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union der Anwendung einer nationalen Rechtsvorschrift entgegen, wonach in Verfahren betreffend die Rückgabe einer Person, die der elterlichen Verantwortung oder der Vormundschaft untersteht, die auf der Grundlage des Haager Übereinkommens über die zivilrechtlichen Aspekte internationaler Kindesentführung vom 25. Oktober 1980 betrieben werden, auf Antrag des Prokurator Generalny, des Rzecznik Praw Dziecka oder des Rzecznik Praw Obywatelskich, der beim Berufungsgericht Warschau innerhalb von zwei Wochen ab dem Eintritt der Rechtskraft des Beschlusses über die Rückgabe einer Person, die der elterlichen Verantwortung oder der Vormundschaft unterliegt, eingereicht wird, die Vollstreckung dieses Beschlusses von Rechts wegen ausgesetzt wird?

 

Art. 34 und 36 EuGVVO a.F. und Art. 11 GrCharta: Presse- und Meinungsfreiheit und wirtschaftliche Situation des Vollstreckungsgegners (Medienunternehmen, Journalist*in) als Grund grenzüberschreitender Vollstreckungsverweigerung ?

Vorabentscheidungsersuchen der Cour de cassation (Frankreich) 11.10.22 – C-633/22

1. Sind die Art. 34 und 36 EuGVVO a.F. und Art. 11 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union dahin auszulegen, dass eine Verurteilung wegen einer Schädigung des Rufs eines Sportvereins durch eine in einer Zeitung veröffentlichte Information eine offensichtliche Beeinträchtigung der Freiheit der Meinungsäußerung und damit einen Grund für die Ablehnung der Anerkennung und Vollstreckung darstellen kann?

2. Falls dies zu bejahen ist, sind diese Bestimmungen dann dahin auszulegen, dass die Unverhältnismäßigkeit der Verurteilung vom ersuchten Gericht nur dann festgestellt werden kann, wenn der Schadensersatz vom Ursprungsgericht oder vom ersuchten Gericht als Strafschadensersatz eingestuft wurde, nicht aber dann, wenn er zur Wiedergutmachung eines immateriellen Schadens dient?

3. Sind die fraglichen Bestimmungen dahin auszulegen, dass sich das ersuchte Gericht lediglich auf die abschreckende Wirkung im Hinblick auf die Mittel der verurteilten Person stützen darf, oder kann es auch weitere Gesichtspunkte wie die Schwere des Verschuldens oder das Ausmaß des Schadens heranziehen?

4. Kann die abschreckende Wirkung im Hinblick auf die Mittel der Zeitung für sich genommen wegen eines offensichtlichen Verstoßes gegen den tragenden Grundsatz der Pressefreiheit einen Grund für die Ablehnung der Anerkennung oder Vollstreckung darstellen?

5. Ist unter der abschreckenden Wirkung eine Gefährdung des finanziellen Gleichgewichts der Zeitung zu verstehen, oder kann sie in einem bloßen Einschüchterungseffekt bestehen?

6. Ist die abschreckende Wirkung bei einem Unternehmen, das eine Zeitung herausgibt, und einem Journalisten – einer natürlichen Person – in gleicher Weise zu beurteilen?

7. Ist die allgemeine wirtschaftliche Lage der Printmedien ein relevanter Umstand bei der Beurteilung, ob die Verurteilung über das Schicksal der betreffenden Zeitung hinaus einen Einschüchterungseffekt für sämtliche Medien haben kann?

 

Keine Sperre der deutschen Insolvenzzuständigkeit durch drittstaatlichen Eröffnungsantrag

BGH 8.12.2022 – IX ZB 72/19

Nach dem autonomen internationalen Insolvenzrecht hindert ein in einem Drittstaat gestellter Eröffnungsantrag allein nicht die internationale Zuständigkeit deutscher Insolvenzgerichte.

 

Ungarische Mautverordnung verstößt nicht gegen den deutschen ordre public II

BGH 7.12.2022 – XII ZR 34/22

Die Bestimmungen des ungarischen Rechts über die Erhebung einer Straßenmaut verstoßen auch hinsichtlich der für die Angabe eines falschen Länderkennzeichens in der ungarischen Mautverordnung getroffenen Regelungen nicht gegen den deutschen ordre public (Fortführung von Senatsurteil vom 28.9.2022 – BGH Az XII ZR 7/22 - NJW 2022, 3644).

 

EuGVVO und Errichtung eines schifffahrtsrechtliches Haftungsbeschränkungsfonds: Rechtshängigkeitssperre, Anerkennung, prozessuale Wirkungen, Vertragsverstoß

BGH 24.3.2022 – I ZR 52/21

1. Das Verfahren vor dem Gericht eines Mitgliedstaats der Europäischen Union zur Errichtung eines schifffahrtsrechtlichen Haftungsbeschränkungsfonds mit dem Ziel, die Haftung des Schädigers zu beschränken, und die Leistungsklage des Geschädigten gegen den Schädiger in einem anderen Mitgliedstaat der Europäischen Union betreffen nicht denselben Streitgegenstand. Das später angerufene Gericht muss deshalb das Verfahren nicht gem. Art. 29 Abs. 1 EuGVVO aussetzen (im Anschluss an EuGH IPRax 2006, 262  – Mærsk Olie & Gas).

2. Die in einem Mitgliedstaat getroffene gerichtliche Entscheidung zur Errichtung eines schifffahrtsrechtlichen Haftungsbeschränkungsfonds ist eine nach Art. 36 Abs. 1 EuGVVO in den anderen Mitgliedstaaten anzuerkennende Entscheidung (im Anschluss an EuGH IPRax 2006, 262 Mærsk Olie & Gas).

3. Der in einem anderen Mitgliedstaat getroffenen Entscheidung müssen durch die Anerkennung nach Art. 36 Abs. 1 EuGVVO diejenigen Wirkungen beigelegt werden, die ihr in dem Staat zukommen, in dessen Hoheitsgebiet sie ergangen ist (im Anschluss an EuGH NJW 1989, 663 – Hoffmann; EuGH EuZW 2013, 60 – Gothaer Allgemeine Versicherung).

4. Maßgeblich für die Frage, welche prozessualen Wirkungen einer anzuerkennenden Entscheidung in dem Staat zukommen, in dessen Hoheitsgebiet sie ergangen ist, ist das Recht dieses Staats. Unerheblich ist, dass die Parteien für ihre vertraglichen Beziehungen eine abweichende Rechtswahl getroffen haben.

5. Die Frage, ob es zulässig ist, dass das durch eine Rechtswahl zur Anwendung berufene Recht eines Mitgliedstaats dem Geschädigten gegen den Schädiger einen auf das positive Interesse zielenden Schadensersatzanspruch gewährt, wenn der Schädiger vertragswidrig einen schifffahrtsrechtlichen Haftungsbeschränkungsfonds in einem anderen Mitgliedstaat errichtet, ist ebenfalls nach dem Recht des Mitgliedstaats zu beantworten, dessen Gerichte die anzuerkennende Entscheidung über die Errichtung des Haftungsfonds erlassen haben.

 

§ 36 Abs. 1 Nr. 3, Abs. 2 ZPO und selbständige Beweisverfahren

BayObLG 23.1.2023 – 101 AR 64/22

1. Zur Zuständigkeit des bestimmenden Gerichts bei ausländischem (Wohn-)Sitz eines Streitgenossen.

2. Ein Gericht, das zur Bestimmung eines gemeinsam zuständigen Gerichts eingesetzt wird, kann entsprechend § 36 Abs. 1 Nr. 3, Abs. 2 ZPO für selbständige Beweisverfahren angerufen werden.

3. Die Auswahl des zuständigen Gerichts durch das nach § 36 ZPO bestimmende Gericht erfolgt unter Beachtung der Grundsätze der Zweckmäßigkeit und Prozessökonomie bei Antragsgegnern ohne allgemeinen Gerichtsstand im Inland aus den Gerichten, an denen ein besonderer Gerichtsstand eröffnet ist.

(Leitsätze 2 und 3 von Karin Jackwerth, Köln)

 

Art. 13 Abs. 1 lit. b, Abs. 2 HKÜ: Rückführungssperre aufgrund väterlicher Gewalterfahrung

Hanseatisches OLG Bremen 19.12.2022 – 4 UF 69/22

1. Der Ablehnungsgrund des Art. 13 Abs. 1 lit. b HKÜ ist unter Berücksichtigung des Zwecks des HKÜ, eine zügige Sorgerechtsentscheidung im Herkunftsstaat zu ermöglichen, restriktiv auszulegen.

2. Der dem entführenden Elternteil obliegende Nachweis, dass die Rückgabe mit der schwerwiegenden Gefahr eines körperlichen oder seelischen Schadens für das Kind verbunden ist oder das Kind auf andere Weise in eine unzumutbare Lage bringt, erfordert daher eine über die mit jeder Rückführung verbundenen Belastungen hinausgehende, besonders schwerwiegende Beeinträchtigung des Kindeswohls.

3. Eine solche Beeinträchtigung kann vorliegen, wenn die entführende Mutter nachweist, dass der Vater vor der Entführung in Gegenwart des betroffenen Kindes mit einer ungeladenen Pistole auf sie gezielt und abgedrückt hat und deswegen eine hohe psychische Belastung des Kindes festzustellen ist, die sich in psychosomatischen Symptomen und gravierenden Ängsten äußert, und außerdem festgestellt werden kann, dass es für die Wahrscheinlichkeit einer psychischen Dekompensation des Kindes bei der Rückkehr keine Rolle spielt, ob die entführende Mutter das Kind begleitet und das Kind dann die noch gesteigerten mütterlichen Ängste vor dem Vater erleben müsste oder ob das Kind gegen seinen Willen in die Hände des Vaters gegeben würde, vor dem es Angst hat.

4. In einem solchen Fall kann außerdem der Ablehnungsgrund des Art. 13 Abs. 2 HKÜ vorliegen, wenn der Widerstand des zehnjährigen Kindes gegen die Rückführung aufgrund der miterlebten Gewalt gegen die Mutter erklärlich erscheint.

 

Anforderung an schiedsgerichtliche Beweiswürdigung und ordre public

OLG Frankfurt 1.12.2022 – 26 Sch 4/22

Ein Verstoß gegen den verfahrensrechtlichen ordre public international kann nicht damit begründet werden, dass ein Schiedsgericht bei einer Beweiswürdigung nicht angibt, welchen konkreten Beweiswert es einzelnen Indizien beigemessen hat.

 

§ 36 Abs. 1 Nr. 3 ZPO für Vollstreckbarerklärung eines Schiedsspruchs

OLG Frankfurt 25.8.2022 – 11 SV 30/22

Der in einem Verfahren zur Vollstreckbarerklärung eines Schiedsspruchs in analoger Anwendung von § 36 Abs. 1 Nr. 3 ZPO gestellte Antrag auf Gerichtsstandbestimmung setzt nicht voraus, dass eine der Antragsgegnerinnen des Bestimmungsverfahrens ihren allgemeinen Gerichtsstand bei einem deutschen Gericht hat. Es genügt vielmehr, wenn der Antragsteller schlüssig darlegen kann, dass die Antragsgegnerinnen einen inländischen besonderen Gerichtsstand in Deutschland besitzen (hier bejaht gem. § 1062 Abs. 1 Nr. 4, Abs. 2 ZPO, weil sich Vermögen der Antragsgegnerinnen in Gestalt von Gesellschaftsanteilen und in Gestalt eines gewerblichen Schutzrechts in Deutschland befindet).

 

Art. 11 Abs. 5 Rom I-VO erfasst § 575 Abs. 1 BGB

LG Berlin 15.12.2022 – 67 S 137/22

1. Bei § 575 Abs. 1 BGB handelt es sich um eine international zwingende Formvorschrift i.S.v. Art. 11 Abs. 5 Rom I-VO.

2. Der soziale Zweck dieser Vorschrift, welche die schriftliche Begründung der Befristung bei Mietvertragsschluss anordnet, erfordert ein Eingreifen unabhängig davon, von welchen einschlägigen Vorschriften des grundsätzlich anwendbaren ausländischen Rechts der Mietvertrag beherrscht wird. Sie soll dem Mieter bei Vertragsschluss schriftlich und somit deutlich vor Augen führen, dass das Mietverhältnis ausnahmsweise allein durch Zeitablauf beendet wird, ohne dass der Mieter die grundsätzlich vorgesehenen fundamentalen Kündigungsschutzvorschriften in Anspruch nehmen kann.

(Leitsatz 2 von Mira Lindenberger, Köln)

 

 

Veranstaltungshinweise

 

  • Am 5. und 6. Mai 2023 findet unter der Schirmherrschaft der Italian Society of International Law and EU Law (SIDI) und der European Association of Private International Law (EAPIL) an der Università Cattolica del Sacro Cuore in Mailand eine Konferenz zum Thema „The Law of Treaties as Applied to Private International Law“ statt. Die Veranstaltung widmet sich den Normen, die den Abschluss, die Interpretation und die Anwendung internationaler Verträge beherrschen, und ihrer Bedeutung und Anwendung auf bilaterale und multilaterale kollisionsrechtliche Staatsverträge. Weitergehende Informationen unter: https://formazionecontinua.unicatt.it/formazione-the-law-of-treaties-as-applied-to-private-international-law-l123mi01551-01.
  • Am 9. und 10. Juni 2023 findet an der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn anlässlich des kommenden Beitritts der EU zum Haager Übereinkommen über die Anerkennung und Vollstreckung von ausländischen Urteilen in Zivil- und Handelssachen die Konferenz zum Thema „The HCCH 2019 Judgments Convention: Cornerstones, Prospects, Outlook“ statt. Auf der Rednerliste stehen Wissenschaftler*innen, Praktiker*innen und Expert*innen u.a. von der Haager Konferenz für Internationales Privatrecht (HCCH), der Kommission der Vereinten Nationen für internationales Handelsrecht (UNCITRAL), und der Europäischen Kommission (GD Handel, GD Justiz). Die Konferenz wird vom Ständigen Büro der Haager Konferenz mitorganisiert. Anmeldungen können an sekreteriat.wellerSpamProtectionjura.uni-bonn.de gerichtet werden. Weitergehende Informationen unter https://www.jura.uni-bonn.de/professur-prof-dr-weller/the-hcch-2019-judgments-convention-cornerstones-prospects-outlook-conference-on-9-and-10-june-2023.
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